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Edelgard Struss

Schauspieler

   Ein alter litauischer Schauspieler im historischen Kostüm sagte sich vielleicht mal: "Gib mir einen Job, der klar als solcher definiert ist, lass mich einen Industriefilm für Klebstoff drehn, das ist doch auch spielen. Befrei mich von dem Zwang, ein Schauspieler zu sein, wenn ich eh die ganze Zeit kellnere. Warum sag ich mir dann immer, dass ich Schauspieler bin, wenn ich was ganz anderes mache? Warum erzähle ich mir die Geschichte, ich bin Schauspieler und verbring den ganzen Abend damit, mit den Kollegen Skat zu spielen, weil ich nur im ersten und fünften Akt dran bin. Was heißt das, ich spiele die meiste Zeit Skat, um mir die Zeit zu vertreiben, in der ich nicht meine Figur bin. Was bin ich denn da? Wenn ich nicht meine Figur bin und mir nicht die Geschichte erzähle, die da gerade über die Bühne geht. Die heroische Geschichte? Was für eine Geschichte erzähle ich mir denn, wenn ich in der Kantine vier Stunden Skat spiele, oder wenn ich in einem Café bediene, oder wenn ich meine Rolle als Journalist oder Lehrer oder Schaffner da draußen nicht spielen kann, was sind das für Geschichten, die ich mir da erzähle? Wenn ich überflüssig bin? Welche Geschichten erzähl ich mir, wenn ich überflüssig bin, ist das das Fernsehen? Ist das die einzige wahre Träne? Natürlich sag ich, ich bin Schauspieler, ich kann ja nicht sagen, ich bin Skatspieler, nur weil ich da oben nicht an meiner Selbstverwirklichung arbeiten kann. Weil da oben macht sich ja dieser Scheißer breit."

 
S. 244 aus: René Pollesch, Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel. In: Christoph Menke und Juliane Rebentisch Hrsg., Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. © Kulturverlag Kadmos, Kaleidogramme Band 67, Berlin 2012. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Kulturverlags Kadmos