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Edelgard Struss

Fengshui-Berater

   Der Geomant sah sich in dem Büroraum um. "Hauptproblem in diesem Büro ist tote Energie. Zu viel davon. Sie tötet ihre eigene Energie." Er zeigte auf die Stöße vergilbten Papiers auf den Aktenschränken. "Diese Papiere. Ich glaube, sie sind sehr alt. Jetzt benutzen Sie sie gar nicht mehr. Sie müssen sie entfernen. Sehr häufiges Problem in alten Büros, sogar in manchen neuen. Tote Energie führt zu ..." Er spähte in sein Notizbuch nach einem Begriff, den er sich aufgeschrieben hatte. "...Le-thar-gie."
   Mirpuri wackelte mit dem Kopf, womit er bedingte Zustimmung andeutete. Er machte ein schuldbewusstes Gesicht, wie ein kleiner Junge, den man mit der Hand an der Keksdose erwischt hatte. "Ich lasse hier ab und zu groß reinmachen. Das Zeug sammelt sich an, Sie wissen ja, wie es ist."
   Wong nickte. "Manche Leute sind Ablagetypen. Sie heften und heften und heften alles weg, stellen es in Aktenschrank. Manche Leute sind Aufstapeltypen. Sie legen ein Blatt aufs andere, stapel-stapel-stapel."
   "Was ist besser?"
   "Ablage ist besser als Aufstapeln. Aber am besten ist Wegwerfen." Wong nahm ein Blatt Papier von einem der Stöße. Es war ein Brief. "Sehen Sie hier. Jedes Aktenstück hat das, was wir 'potenzielle Energieübertragung' nennen. Jemand schreibt Ihnen Brief. Oder Sie schreiben Brief an jemand. Oder einer will, dass Sie etwas kaufen. Oder ihn anrufen. Oder ihm Fax schicken. Jemand will Ihnen etwas mitteilen. Alle haben ein bisschen Energie, ein bisschen Mühe in das Papier gesteckt. Wenn Sie Brief lesen und dann etwas tun, ist Energie vom Absender Ihre Energie geworden. Hat sich in Tätigkeit umgewandelt. Aber wenn Sie nichts tun, wenn Sie Papier auf Stapel legen, dann stirbt die Energie. - Später bekommen Sie noch ein Stück Papier. Wieder auf den Stapel. Dann noch eins. Und noch eins. All diese Blätter legen Sie aufeinander. Ganz schnell sind hunderte Blatt Papier aufgestapelt. Sie legen sie in Schublade. Schublade, sie wird zu voll. Da machen Sie neuen Stapel auf dem Schreibtisch. Schnell hat neuer Stapel auch hunderte Blatt Papier. Aber jedes Blatt ist ein Stück tote Energie."
   "Ich verstehe", sagte Mirpuri und wiegte wieder schräg den Kopf. "Ich denke, die meisten dieser Akten haben inzwischen gar keinen Wert mehr für mich. Ich hab es bloß noch nicht geschafft, sie..."
   "Stapel mit toter Energie sind ganz schlecht. Wenn Sie ins Büro kommen, sehen Sie Haufen alte Akten. Die saugen Ihre Energie auf. Sie fühlen sich müde, Sie fühlen in sich auch tote Energie. Sie werden le-thar-gisch. Am besten ist wirklich, Sie werfen alle alten Papiere weg. Nur juristische Sachen, wichtige Akten können Sie behalten. Der Rest - raus. Sonst zu viel Le-thar-gie, breitet sich aus im ganzen Büro".
   Mr. Mirpuri nickte schräg. "Okay. Das kommt mir vernünftig vor. All den alten Papierkram, der sich hier staut, vernichten. Gut. Das wird als Erstes erledigt. Und was soll ich sonst noch machen?"
   "Besorgen Sie sich kleineren Schreibtisch. Dieser ist zu groß."
   "Aber hören Sie mal! Ein Geschäftsführer muss doch auf jeden Fall einen großen Schreibtisch haben. Ich bin Präsident dieses Unternehmens, ich brauche einen großen Tisch. Keiner wird mich respektieren, wenn ich nicht den größten Schreibtisch habe. Ausgeschlossen! Außerdem muss ich alle möglichen Sachen darauf unterbringen."
   "Der Tisch ist zu groß für diesen Raum. Sieht falsch aus. Fühlt sich falsch an. Sie können nicht bequem um ihn herumgehen. Das müssen Sie ändern."
   "Na gut, wenn Sie meinen", sagte Mirpuri widerstrebend. "Ich hab ihn aus Indien mitgebracht, verstehen Sie? Mit Schnitzerei, aus einem einzigen Stück..."
   "Geschäftsraum ist ein Ort für Veränderung. Alles, was hereinkommt, muss bearbeitet werden, ist ein Vorgang. Muss verändert werden. Dann kann Chi strömen. Dann kann auch Geld strömen."
   Beim Wort 'Geld' zwinkerte Mirpuri. Offensichtlich nahm er dieses Thema äußerst ernst. "Sie brauchen neuen Teppich", fuhr Wong fort, "und anderen Sessel. Farbe von Aktenschränken müssen Sie ändern. Und Trennwände umstellen."
   Mr. Mirpuri seufzte. Das hier würde teurer werden, als er erwartet hatte.

 
S. 84 - 86 aus: Nury Vittachi, Der Fengshui-Detektiv und der Geistheiler. Aus dem Englischen von Ursula Ballin. © Unionsverlag Zürich 2004, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags: www.unionsverlag.com