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Edelgard Struss

Zirkusleute

   Ein kleiner Zirkus, in dem jeder alle möglichen Rollen hat. Von den beiden Seiltänzerinnen wird die Schwarzhaarige in ihrem Tanzröckchen für den Messerwerfer an ein buntes Rad geschnallt. Und die andere, die Blonde im Frack, ist die Assistentin des Zauberers. Beide mit langen Beinen, beide sind wunderschön. Im nächsten Akt kehren sie als Kunstreiterinnen im Cowboy- und Indianerkostüm wieder. Und danach auch noch als Trapezkünstlerinnen. Und wenn ich in diesem Zirkus schon Clown, Direktor, Zauberer, Buchhalter und Dompteur sein soll (aber hoffentlich nicht der Messerwerfer) und auch noch die Plakate anklebe, dann wäre mir schon am liebsten, diese beiden Seiltänzerinnen, die dazu noch kochen und die Eintrittskarten verkaufen und für uns Zirkusleute warme Pullover stricken, würden auch als lebensgefährliche Löwen und Tiger in meiner Raubtierschau auftreten. Und dann beide noch, von mir vorgeführt, in einem gemeinsamen Extrakostüm mit verdecktem Reißverschluß als rechnendes Pferd. So ein bescheidener kleiner Zirkus, daß man eigentlich ein paar große Spiegel in der Manege aufstellen müßte, damit alles ein bißchen bombastischer wirkt (besser zur Geltung kommt). Wenigstens als Zirkusclowns könnten wir uns morgens beim Frühstück an manchen Tagen ein bißchen mehr Zeit lassen. Als Clown kann man sich vor jedem Auftritt sagen: Heute spielst du so gut, daß die Leute die ganze Zeit lachen und weinen! Erst lachen und weinen und dann vor Ergriffenheit stumm! Und lauter glückliche Kinder! Du spielst so gut, daß die Zuschauer es am Ende kaum aushalten! Und jetzt fängt es auch noch zu regnen an. Sogar wenn nur zehn Leute kommen! Da muß man dann umso besser spielen! Aber wenn die Musik spielt, Zirkusmusik und überhaupt keiner kommt? Alle Scheinwerfer an. Auf den Plakaten, die so viel Geld kosten und tun jetzt im Regen aufweichen, auf diesen Plakaten setzen die Löwen und Tiger zum Sprung an. Die beiden Seiltänzerinnen in ihren selbstgenähten Tanzröckchen, rosa und hellblau, stehen am Eingang bereit. Stehen als wollten sie gleich zu tanzen anfangen. Stehen auf Zehenspitzen. Stehen und lächeln und frieren. Im Zelt ist es zugig und feucht. Laut und traurig die Trompeten und Trommeln. So gut spielen, daß die Leute ihr eigenes Leben danach nicht mehr aushalten und dann wird die Welt eine bessere Welt. Schon eine halbe Stunde über die Zeit und noch niemand gekommen?

 
S. 326 – 327 aus: Peter Kurzeck, Vorabend. Roman. Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld Verlag 2.2011. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags